Die Bedeutung von Vorwissen

Willkommen im dritten Teil der Mini-Serie zum Thema «Gedächtnis». Wer sich mit dem ersten und dem zweiten Teil der Serie beschäftigt hat, weiss: Das Gedächtnis ist kein einzelnes «Teil» im Hirn. Bis wir neue Informationen zuverlässig und abrufbar gespeichert – eben: gelernt – haben, durchlaufen sie eine Reihe von Stationen und Verarbeitungsschritten. In diesem Blogbeitrag richten wir den Blick auf einen besonderen Aspekt des Langzeitgedächtnisses: auf unser Vorwissen – zum aktuellen Lernthema oder ganz allgemein.

somedia learning rene oberholzer

Autoren: René Oberholzer
Co-Autorin: Samira Baumann
Datum: 6. Januar 2022
Lesedauer: 2 Minuten

Wie war das nochmal?

Zapfen wir doch gleich mal das Vorwissen aus dem zweiten Teil der Blog-Serie an. Unser Gedächtnismodell sah so aus:

Der Prozess einer Information vom Thalamus über das Arbeitsgedächtnis ins Langzeitgedächtnis ist abgebildet

Haben Sie es bemerkt? Wir haben das Modell hier um zwei Details ergänzt:

  • Neue deklarative Informationen, also Fakten, Zusammenhänge oder Ereignisse, erhält unser Arbeitsgedächtnis in der Regel entweder sprachlich – egal ob geschrieben oder gesprochen – oder visuell als Bild, Grafik, Symbol, Illustration usw.
  • Wir verfügen zu fast jedem erdenklichen Thema über das eine oder andere Stückchen Vorwissen im Langzeitgedächtnis.

Was wir ebenfalls wissen: Das Vorwissen ist ein zentraler Faktor für den Lernerfolg. E-Learning-Profis nutzen diese Erkenntnisse der Gedächtnisforschung, um ihrem Zielpublikum den Erwerb von deklarativem Wissen zu erleichtern. Der Werkzeugkasten dafür ist gut gefüllt. Greifen wir ein paar Techniken heraus.

1. Erst mal das Vorwissen checken

Manche Lernangebote bieten zu Beginn ein Quiz zur Selbstüberprüfung an. Es bezieht sich nur auf das nötige Vorwissen. Mit einem solchen Quiz finden Lernende heraus, wo sie noch Lücken haben. Ist es geschickt gemacht, erkennen sie nicht nur fehlendes, sondern auch falsches Vorwissen.

Wenn es hart auf hart geht, wird das Quiz als Test umgesetzt: Nur wer besteht, wird zum nächsten Lernschritt zugelassen.

2. Vorwissen anwärmen

Optimalerweise spricht bereits der Einstieg vermutetes Vorwissen an, etwa durch ein Fallbeispiel.

Es geht aber noch gezielter: mit einem sogenannten Advance Organizer («vorangestellte Ordnungshilfe»). Ein Advance Organizer ist eine kurze Einleitung, die das Zielpublikum darauf vorbereitet, um welche Themen es im Weiteren geht. Dabei werden nur Begriffe verwendet, die wir beim Zielpublikum mit hoher Wahrscheinlichkeit voraussetzen dürfen. Die so «vorgewärmten» Konzepte im Langzeitgedächtnis erleichtern das Anknüpfen neuer Informationen.

Ein Beispiel: Umgangssprachlich nennen wir unser Herz manchmal auch «Pumpe». Wie eine Fahrradpumpe kann es ansaugen und ausstossen. An die Stelle der Luft tritt beim Herz das Blut. Bei einer medizinischen Standarduntersuchung wird meistens auch der Blutdruck gemessen. In den nächsten 10 Minuten lernen Sie, warum Blutdruck-Angaben aus zwei Werten bestehen und was sie bedeuten.

3. Ohne das wird kaum gelernt: Relevanzempfinden

Was motiviert Sie dazu, einem Lernangebot Ihre Aufmerksamkeit zu widmen? In der Regel lässt sich das so auf den Punkt bringen: Sie müssen es als relevant für sich und Ihre Situation einschätzen. Dessen sind sich auch die E-Learning-Profis bewusst. Deshalb nutzen sie Einstiege, die Situationen aus der Erlebniswelt des Zielpublikums aufgreifen.

Die Möglichkeiten sind vielfältig. Sehr wirksam sind:

  • eine wirklichkeitsnahe Problemstellung
  • verblüffende Fakten oder Zusammenhänge
  • der Beginn einer Geschichte mit einem Spannungsbogen
  • ein Dilemma
  • ein packendes Fallbeispiel
Screenshot aus einem WBT. In einem Video muss der Täter gefunden werden.

4. Die unwillkürliche Macht von Bildern

Wir alle kennen die Redewendung: Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Nun, manche jedenfalls. Was aber immer stimmt: Bilder werden viel schneller aufgenommen und interpretiert als Texte.

Didaktik-Profis machen sich das gerne zunutze, egal, ob mit statischem oder bewegtem Bild. Denn ein Bild aktiviert ganz automatisch und mühelos Vorwissen. Allerdings je nach Betrachter:in unter Umständen ganz unterschiedliches.

Auch hier ein Beispiel:

Person A will Person B Geld geben. Person B lehnt mit einer Handgeste ab.

Bei einem Kind: Mann, Büro, Geld, Ablehnung.

Bei Bankangestellten: Erlebnisse mit Kunden, Erwartung von Gegenleistung, Korruption, Moral, Image, Gesetze, Vorschriften, Finanzkontrolle, Bussen, Entlassung, Gefängnis… – ein ganzer Strauss von potenziellem Vorwissen wird hier aktiviert, auf dem wir aufbauen können.

Allerdings ist bei der Bildauswahl Sorgfalt geboten. Nehmen wir an, wir möchten wie oben Anti-Korruptions-Massnahmen vermitteln. Wie geeignet ist folgendes Bild?

Mann und Frau schütteln sich die Hände.

Welche Assoziationen haben Sie dabei? Vermutlich ist es nicht so zielgenau wie das erste Bild.

Unglücklich gewählte Bilder behindern das Lernen mehr, als dass sie nützen. Warum? Weil wir fast nicht anders können, als Bilder zu interpretieren. Dabei aktivieren sie unter Umständen andere Vorwissensinhalte als beabsichtigt. Passt dann der weitere Lerninhalt nicht zur Erwartung der Teilnehmenden, so lenkt sie das ab. Schlimmstenfalls zwingt sie dieser Konflikt, das Bild aktiv zu ignorieren.

5. Metaphern und Analogien

Ein weiteres Werkzeug haben wir alle schon unzählige Male verwendet: Analogien. Versteht jemand eine Erklärung nicht auf Anhieb, suchen wir nach einer Metapher für den neuen Sachverhalt und beginnen dann mit «Das ist, wie wenn … ». Als Metapher folgt etwas, von dem wir vermuten, dass es unserem Gegenüber bestens bekannt ist. Anders gesagt: Wir versuchen, Vorwissen zu aktivieren.

Eine Analogie lässt sich bilden, wenn zwei Dinge aufgrund eines bestimmten Merkmals Ähnlichkeiten aufweisen. Unser Vergleich von Fahrradpumpe und Herz im Advance Organizer weiter oben war ein typisches Beispiel. Oder nehmen wir an, wir möchten einer Person mit wenig Computerwissen die Bedeutung von RAM und Festplatte erklären. Sie ahnen es: Wir vergleichen sie mit dem Arbeitsgedächtnis («das, woran du grade bewusst denkst») und dem Langzeitgedächtnis («das, woran du nicht bewusst denkst, woran du dich aber erinnern kannst, wenn du es brauchst»).

Der umgekehrte Weg

In diesem dritten Teil des Gedächtnis-Blogs haben wir uns ganz darauf konzentriert, wie wir Vorwissen aktivieren, damit neue Inhalte daran andocken können. Einige gängige Techniken sind zur Sprache gekommen. Worum wir uns noch nicht gekümmert haben: Wie machen wir auch die neuen Inhalte zu bleibendem Wissen? Und wie üben wir den Abruf aus dem Langzeitgedächtnis? Deshalb geben wir dieser Blog-Serie ein Dessert: den vierten Teil.

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