Vom Kurz- ins Langzeitgedächtnis

Willkommen zurück! Wenn Sie den ersten Teil dieser Mini-Serie schon gelesen haben, erinnern Sie sich, dass Lernen auf einer Kette von mehreren Komponenten beruht: Nachdem die Sinnesorgane die Informationen aufgenommen haben, entscheidet der Thalamus, welchen davon unsere Aufmerksamkeit gelten soll. Nur die relevanten gelangen ins Arbeits- bzw. Kurzzeitgedächtnis. Dort sind sie – wie der Name bereits sagt – nur kurz, sprich wenige Minuten. Damit wir die Inhalte dauerhaft abrufen können, müssen sie aber ins Langzeitgedächtnis gelangen. In diesem Beitrag schauen wir genauer hin und erläutern, wie Kurz- und Langzeitgedächtnis mit Informationen jonglieren.

somedia learning rene oberholzer

Autoren: René Oberholzer
Co-Autorin: Samira Baumann
Datum: 4. Oktober 2021
Lesedauer: 2 Minuten

Das Pingpong der Speicher

Sie wissen bereits, dass der Thalamus als Tor zum Bewusstsein nur wichtige Informationen in das Kurzzeitgedächtnis lässt. Das Kurzzeitgedächtnis kann sich diese Informationen vorübergehend merken und sie verarbeiten. Deshalb nennt man das Kurzzeitgedächtnis auch «Arbeitsgedächtnis».

Um Informationen langfristig verfügbar zu halten, müssen sie aber vom Kurz- ins Langzeitgedächtnis übertragen werden.

Einerseits kann es sich dabei um gänzlich neue Informationen handeln, beispielsweise, wenn wir jemanden kennenlernen und uns die Person (Name, Aussehen, möglicherweise Gesprächsthemen oder Kleidung etc.) merken. Andererseits können auch bereits bestehende Informationen aus dem Langzeitgedächtnis abgerufen, im Kurzzeitgedächtnis ergänzt oder verändert und dann wieder ins Langzeitgedächtnis verschoben werden. Wenn ich beispielsweise während einer Diskussion neue Sichtweisen oder Informationen zu einem Thema erhalte, werden mein Wissen und meine Meinung zu diesem Thema im Kurzzeitgedächtnis moduliert und anschliessend wieder im Langzeitgedächtnis abgelegt.

Speichern, verarbeiten, lernen, abrufen – nicht immer fehlerfrei

Wenn wir Informationen aus dem Langzeitgedächtnis abrufen, werden sie also immer ein klein wenig verändert. Sie werden unter anderem durch unsere Gefühle, Erlebnisse oder Diskussionen beeinflusst. Das hat Auswirkungen auf unsere Erinnerungen: Nicht alles, woran wir uns zu erinnern glauben, ist exakt so passiert. Und das kann gewichtige Folgen haben, zum Beispiel bei Zeugenaussagen. Das wäre ein anderes spannendes Thema, aber in diesem Beitrag bleiben wir beim Lernen.

Das Wichtigste im Bild

Ein Modell der behandelten Gedächtniskomponenten könnte folgendermassen aussehen:

Der Prozess einer Information vom Thalamus über das Arbeitsgedächtnis ins Langzeitgedächtnis ist abgebildet

Es ist stark vereinfacht, und die Sinnesorgane haben wir weggelassen. Genau genommen verbindet das Modell ausserdem ein physiologisches Element (den Thalamus) mit «theoretischen» Elementen (Kurz- und Langzeitgedächtnis). Letztere sind in Wirklichkeit nämlich keine einzelnen Orte im Gehirn, sondern über zahlreiche Hirnregionen verstreut – von der Grosshirnrinde bis zum Hirnstamm. Trotzdem gibt uns das Modell einen Überblick über die wichtigsten Prozesse beim Lernen.

Wovon hängt der Lernerfolg ab?

Wir lernen also, indem Informationen aus dem Arbeitsgedächtnis ins Langzeitgedächtnis übertragen werden. Aber wovon hängt es ab, wie erfolgreich diese Übertragung ist? Was bestimmt, wie lange wir uns an etwas erinnern und wie schnell wir auf die gespeicherten Informationen zugreifen und sie aktiv nutzen können?

Eine ganze Reihe von Faktoren beeinflussen unseren Lernerfolg: unsere Motivation, die investierte Zeit, unsere Gemütslage (starke negative Emotionen bewirken, dass wir uns Faktenwissen schlechter merken können), die Tageszeit, in welcher Form wir Lerninhalte präsentiert bekommen, ob wir mit anderen zusammen oder alleine lernen, was wir schon über das Lernthema wissen etc.

Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass von den genannten Faktoren unser Vorwissen den stärksten Einfluss auf den Lernerfolg hat. Warum ist das so?

Deklaratives Lernen = Neues mit Vorwissen verknüpfen

Neues Wissen kann in unserem Langzeitgedächtnis nicht isoliert für sich alleine abgespeichert werden, es wird immer irgendwo «angehängt». Stellen Sie sich das Gehirn als riesiges Netzwerk von «Informationsfäden» vor. Neue Fäden müssen an einen oder mehrere bestehende Fäden geknüpft werden, sonst bleiben sie nicht im Gedächtnis hängen und die neue Information wird gleich wieder vergessen.

Jetzt kommen wir zurück auf unsere Merkaufgabe. Können Sie sich noch an die Aussagen aus dem ersten Teil der Mini-Serie erinnern?

  • Wer lebt in den Alpen?
  • Wer komponiert ein Werk?
  • Wer spielt mit wem Tennis?
  • Wer legt einen Schwur ab?
  • Wer isst Lebkuchen?

Wie viele Namen konnten Sie sich merken? Keine Sorge, mit zwei sind Sie schon vorne dabei. Es ist schwierig, sich Fakten zu merken, wenn man keinen Bezug zu den Personen und Ereignissen hat. Ihre Leistung wäre wohl ungleich besser gewesen, wenn die Aussagen so lauten würden:

  • Heidi lebt in den Alpen.
  • Wolfgang Amadeus Mozart komponiert ein Werk.
  • Emma Raducanu spielt mit Belinda Bencic Tennis.
  • Wilhelm Tell legt einen Schwur ab.
  • Hänsel und Gretel essen Lebkuchen.

Dass wir uns diese Namen besser merken können als die vorherigen, liegt an unserem Vorwissen. Wir kennen die Märchen und Geschichten rund um diese Personen, deshalb fällt es uns leicht, die Zuordnungen korrekt wiederzugeben.

Vorwissen zu aktivieren, um es zum Andocken neuer Informationen bereitzumachen, ist also eine gute Idee, wenn wir Lernprozesse erleichtern möchten. Es ist aber nicht der einzige Kniff, den E-Learning-Profis (und nicht nur diese) in ihren Produkten verwenden. Im dritten Teil der Mini-Serie besprechen wir, wie wir das Mehrspeichermodell des Gedächtnisses für die Konzeption unserer E-Learning-Inhalte nutzen.

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